WAS ICH FAST NUR AUS ERZÄHLUNGEN WEISs

Als ich am 24.07.1964 geboren wurde, war die Welt ganz in Ordnung. Meine Eltern waren glücklich und ich auch. Wenn es nach meinem Opa gegangen wäre, würde ich heute Max heißen, aber meine Eltern haben sich dagegen gewehrt. Ich finde das gut und nun heiße ich Mario. Natürlich habe ich gelernt, dass Namen »Schall und Rauch« sind, aber trotzdem bin ich ein bisschen stolz auf meinen Namen.

Mein Vater wollte wohl, dass ich einmal ein großer Fußballstar werde, daher mein Vorname Mario, nach Mário Esteves Coluna, einem ehemaligen portugiesischen Fußballspieler, der mit Benfica Lissabon 1961 und 1962 den Europapokal der Landesmeister gewonnen hat. Aber dass es mit dem Fußballstar Mario Schirmer nichts wird, war sehr schnell klar. Dazu aber später; ich möchte der Reihe nach erzählen.

Obwohl ich mich natürlich an meine ersten beiden Lebensjahre naturgemäß nicht groß erinnern kann, muss ich wohl kein einfaches Kind gewesen sein. Das hat aber nichts mit der eigentlich liebevollen Erziehung meiner Eltern zu tun. Die Erziehungsmethoden waren autoritär. Antiautoritäre Erziehung gab es erst später und auch nur im Westen. Das dachten wir zumindest. Auf jeden Fall haben wir sowieso vieles nicht gewusst. Meine Freunde und ich sind ja in Dresden, im »Tal der Ahnungslosen«, aufgewachsen. Das war in der ganzen DDR als solches bekannt. Wir lebten im schönen Elbtal, ganz im Osten des neuen deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Bis dahin konnten die Wellen des Westfernsehens eben nicht gelangen. Manchmal fühlten wir uns deshalb schon ein bisschen benachteiligt, aber auf jeden Fall waren wir stolz, Dresdner zu sein.

Nun jedoch zurück zu meinen Eltern. Ich glaube nämlich, dass mich meine Eltern sehr geprägt haben und dass es ganz wichtig war, wie ich erzogen wurde. Das hat sicher entscheidend meinen Lebensweg mitbestimmt.

Mein Vater Karl-Heinz wurde kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges in Dresden geboren und wuchs in Wilsdruff, einer Kleinstadt in der Nähe von Dresden auf. Da seine Eltern eine Bäckerei besaßen, musste mein Opa Herbert auch nicht in den Krieg. Das war ein riesengroßes Glück. Hungern musste mein Vater also nie und stand sogar oft im Mittelpunkt, weil er seine Freunde in der schweren Nachkriegszeit mit Semmeln, wie man in Sachsen sagt, also Brötchen, versorgen konnte. Da war man wer. Leider ging das aber nicht lange so. Es kam nämlich zur Entnazifizierung. Das heißt, dass die Nazis bestraft und enteignet wurden. Mein Opa war Mitglied der NSDAP, nie aktiv, aber eben dabei. Er wurde bestraft, musste ins Gefängnis und die Bäckerei war weg. Das hat wiederum meinen Vater sehr geprägt und war wohl auch der Grund, warum er mir später innig ans Herz gelegt hat, nie einer Partei beizutreten.

Nach acht Jahren Schule wurde mein Vater mit nicht einmal vierzehn Jahren Bäckerlehrling und war damit immer die ganze Woche über in Dresden, genauer gesagt in Johannstadt, bei seinem Lehrmeister in Kost und Logis. Einfach war das sicher nicht. Dieser Wechsel gab ihm jedoch auch die Möglichkeit, von Motor Wilsdruff zur Sportgemeinschaft Turbine Dresden zu wechseln und damit ein sehr anerkannter und bekannter Johannstädter Fußballer zu werden. Beim Fußball gab er nämlich alles. Da war Leidenschaft und Biss dabei. Das Zweite kann man sogar wörtlich nehmen. Auf alle Fälle war mein Vater wohl einer der besten Linksaußen, die Turbine je gesehen hat und auch derjenige, der die meisten roten Karten erhielt. Auf dem Spielfeld ging es also oft hoch her, doch nach dem Spiel tat es ihm immer leid und Harmonie zog ein. Er war bei allen beliebt, auch bei seinen Gegnern. Dass er ein Hitzkopf war, wussten eben alle und verziehen es ihm. Meine manchmal aufkommende Erregtheit ist sicher darauf zurückzuführen. Es liegt halt in der Familie. Das ist zumindest meine Entschuldigung. Auf alle Fälle hat es mich während meines Lebens viel Zeit und Kraft gekostet, ruhiger zu werden.

Meine Mutter wurde kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Dresden geboren. Der Grund dieses Zeitpunktes war, dass mein Opa Erich Adler nach seiner zweiten schweren Verwundung von der Ostfront zurück nach Dresden verlegt worden war. Obwohl meine Mutter die schwere Kriegszeit noch nicht bewusst miterlebt hat, hat sie sehr wohl gesehen, wie schwer der Wiederaufbau war. Aber es ging voran. Das Leben verbesserte sich und man konnte sich einen kleinen Wohlstand aufbauen. Unterstützt wurde das bei der Familie meiner Mutter auch dadurch, dass mein Opa ein Friseurgeschäft aufmachen konnte. Er war also Geschäftsmann und damit bekannt und angesehen in Johannstadt. Erzogen wurden meine Mutter und ihre zwei Jahre ältere Schwester ziemlich streng. Beim Vater wurde »gespurt«, da gab es keine Widerrede. Meine Oma Anni war eher die weichere, musste sich als »mithelfende Ehefrau« aber auch den Weisungen ihres Mannes fügen.

Das bringt mich nun zurück zu den Erziehungsmethoden. Da ich also immer ein ziemlicher Dickkopf war, wurde mir des Öfteren der Hintern versohlt, von meiner Mutter wohl gemerkt. Mein Vater hat uns nie geschlagen. Erzogen hat uns überhaupt nur unsere Mutter. Sie war ja auch den ganzen Tag zu Hause. Sie hatte zwar Friseuse gelernt, war dann aber nach der Heirat mit meinem Vater, wie sehr viele Frauen, Hausfrau geworden.

Als ich dann ein bisschen mehr als zwei Jahre alt war, wurde mein Bruder geboren. Er war ganz blond, noch blonder als ich und er war ein ganz liebes Kind, unser Uwe. Da konnte ich nicht mithalten. An zu viele Sachen in Uwes ersten zwei Lebensjahren kann ich mich nicht erinnern. Auf jeden Fall erinnere ich mich aber an zwei Dinge genau.

Ich war immer ein ziemlich ängstlicher Typ. In der Nacht hatte ich oft Angst, dass Diebe durchs Fenster kommen könnten oder dass mich jemand mitnimmt. Wir haben ja im Erdgeschoss gewohnt und da hat man eben Angst. Um die Angst zu überwinden, habe ich bei meinem Baby-Bruder im Kinderbett Schutz gesucht. Zu zweit ist man halt sicherer. Nur meiner Mutter hat das natürlich gar nicht gefallen und ich wurde Nacht für Nacht wieder in mein Bett zurückgeschafft, bis es meiner Mutter zu bunt wurde. Dann hat sie mir meinen Laufgurt umgebunden und am Bett fest gemacht. Von vorn sahen die Laufgurte ein bisschen wie die Riemen der bayrischen Lederhosen aus und hinten waren längere Riemen befestigt. Damit hatte man die Kinder beim Laufen im Griff oder konnte sie im Kinderwagen festmachen, damit sie nicht herausfielen. Ob es die Dinger heute nicht mehr gibt, weil zu viele Mütter oder Väter sie zu oft missbraucht haben, ist mir unbekannt. Ich war damit jedoch buchstäblich ans Bett gefesselt, was meinen Dickkopf natürlich nur noch verstärkt hat.

Die zweite Sache in Bezug auf meinen Bruder, an die ich mich noch erinnere, ist, dass es ein riesiges Drama war, wenn meine Eltern weggehen wollten. Dann kam nämlich immer eine Tante, die auf uns aufpassen sollte. Mir war es immer egal, wer kommt. Aber mein Bruder, der ja sonst immer so lieb war, hat geschrien und getobt, wenn nicht seine ganz spezielle Frau Heinze kam. Und am besten war natürlich, wenn Mama gar nicht erst wegging.

Alles in allem war es, wie ich schon erwähnt habe, eine gute Zeit. Wir konnten viel spielen und meine Mutter hatte ausgiebig Zeit für uns. Ich durfte mit drei bis vier Jahren auch manchmal schon allein im Konsum Milch mit dem Krug holen, da war ich besonders stolz. Aufregend war auch, wenn der Eismann in unsere Straße kam. Nun ja, nicht mit Eis am Stiel zum Essen, das haben wir nur sehr selten bekommen. Es war der Eismann, der das Eis für die alten Kühlschränke brachte. Da wurden kleinere oder größere Eisblöcke von einem langen Quader aus Eis abgetrennt und den meist älteren Damen in den Eisschrank gelegt. Damit wurden die Sachen darin gekühlt. Ich habe mich immer gefragt, wie man so viel Eis herstellen kann. Wir hatten zu Hause bereits einen elektrischen Kühlschrank und so kam der Eismann leider nie zu uns.

Große Aufregung und viel Arbeit gab es auch immer bei der großen Wäsche. Im Waschhaus wurde die Wäsche gekocht und auf einem Waschbrett mit Kernseife geschrubbt. Ziemlich schwere Arbeit und so mancher zukünftige Schwiegersohn hat da bei seinen zukünftigen Schwiegereltern mitgeholfen, am großen Waschtag. So hat wohl auch mein Vater, Jahre zuvor, Punkte gesammelt bei Oma und Opa. Am seltsamsten für mich als Kind war dann immer, wenn die nasse, weiße Bettwäsche auf dem Rasen ausgebreitet wurde, um sie zu bleichen. Nie habe ich so richtig verstanden, warum das alle Leute machen. Ich dachte, die Wäsche würde doch wieder dreckig werden, so auf dem Boden. Dass das heute niemand mehr macht, könnte daran liegen, dass jetzt die Bleichmittel diesen Arbeitsschritt erledigen oder vielleicht ist auch die Luftverschmutzung so groß, dass man nach dem Auslegen der Bettwäsche auf dem Rasen diese wieder waschen müsste.

Mein erster Lebensabschnitt kam zu seinem Ende, als meine Mutter wieder schwanger wurde. Wir freuten uns alle. Natürlich konnte keiner wissen, wie das dritte Kind in unserer Familie werden würde, bei zwei Brüdern, die sich zwar sehr ähnlich sahen, aber im Charakter doch sehr unterschiedlich sind. Aber viel Zeit zum Nachdenken war nicht.

Mein Vater hatte sich bereits 1961 zum Bäckermeister qualifiziert. Meine Mutter war eine resolute Frau mit viel Tatendrang. Da stand in Dresden-Gruna eine Bäckerei zum Verkauf beziehungsweise zur Weiterführung offen, weil das kinderlose Ehepaar Möbius in den Ruhestand ging. Man glaubt es kaum, aber meine Eltern wollten sich dieser Herausforderung stellen. Das war besonders bemerkenswert, weil diese Bäckerei zu den größeren in Dresden gehörte. Dort arbeiteten fast zehn Angestellte. Eine größere Anzahl an Vollzeitangestellten war nach DDR-Recht auch gar nicht erlaubt, denn dann wäre der Eigentümer enteignet worden. Meine Eltern bewarben sich um die Bäckerei und erhielten vom Stadtbezirk den Zuschlag. Im Alter von vier Jahren hatte ich natürlich keine Ahnung, was das bedeuten würde. Für mich war es super, von nun an in einer Bäckerei zu leben, wo es immer Kuchen und Kekse gab. Zu dem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass Bäckerkinder immer nur die schlechter zu verkaufenden Randstücke, zerbrochene Kekse oder Kuchenränder bekommen. Wie auch immer, meine Meinung zur Übernahme der Bäckerei war sowieso nicht gefragt. Meine Eltern wollten unbedingt die Bäckerei eröffnen, obwohl alle anderen Leute es ihnen nicht wirklich zutrauten. Aber meine Eltern hatten den Zuschlag erhalten und so sind wir im September 1968 nach Gruna gezogen.

Süßes Leben in der Bäckerei

Meine Eltern waren nun also Privatunternehmer, d.h. Bäcker mit Versorgungsauftrag, in unserer sozialistischen Heimat. Um genauer zu sein, mein Vater war Bäckermeister mit Frau. Später wurden diese Frauen dann »mithelfende Ehefrau« genannt. Unter »mithelfender Ehefrau« kann man sich heutzutage nicht mehr viel vorstellen. Es bedeutete, dass meine Mutter nur über die Sozialversicherung gemeldet war, keinen Lohn bezog und somit für später keinen Rentenanspruch hatte. Sie kam auch nicht in den Genuss einen monatlichen Haushaltstag in Anspruch nehmen zu können, der anderen arbeitenden Frauen der sozialistischen Gesellschaft zustand. Letzteres war jedoch sowieso nicht möglich, da meine Eltern fortan täglich zwölf bis sechzehn Stunden arbeiteten. Dazu komme ich aber noch einmal.

Wir, als vierköpfige Familie, zogen nicht etwa in ein schönes Haus oder eine große Wohnung. Bei der vorherrschenden Wohnungsknappheit oder was auch immer die Gründe waren, zogen die Vorbesitzer der Bäckerei nicht aus. Sie blieben in ihrer Wohnung wohnen und traten uns zwei Zimmer in der ersten Etage ab. Ein Zimmer war unser Wohnzimmer und das zweite unser Schlafzimmer. So schliefen meine Eltern, Uwe und ich zu viert im Schlafzimmer. Für mich war das wunderbar. Ich brauchte nicht mehr zu meinem Bruder ins Bett krabbeln, da mein Vater jeden Abend mit uns gegen 19 Uhr ins Bett ging. Dass der Wecker während der Arbeitswoche für ihn dann immer, abhängig vom Tag, zwischen 0 Uhr und 2:30 Uhr klingelte, habe ich zu dieser Zeit noch nicht bemerkt.